Feminist Pin-up

Angenommen, ich setzte mich nackt ins Internet. Dann müsste ich mir Fragen gefallen lassen. Was ich damit bezwecke, und ob es für das, was ich zu sagen habe, nötig ist, es unbekleidet zu sagen. Ob ich exhibitionistisch veranlagt bin. Ob ich das brauche.


Natürlich habe ich mir diese Fragen gestellt. Und noch eine weitere, berühmtere Frage, sie stammt von der Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey, und sie hat sie schon 1975 gestellt: „Is my body a bearer of meaning or a maker of meaning?“ Wird meinem Körper lediglich von außen Bedeutung zugewiesen, oder ist es mir möglich, selbst Bedeutung mit ihm zu schaffen?

Vor acht Jahren habe ich das berühmte Plakat der Womens´ Lib nachgestellt, auf dem ein nackter Frauenkörper wie an der Fleischtheke mit den Bezeichnungen für die einzelnen Fleischstücke markiert ist. Das Original stammt von 1968, und das Plakat wurde eingesetzt, um die Ausschlachtung des weiblichen Körpers zu illustrieren, die Instrumentalisierung und Objektifizierung von Frauen.

Vor zwei Jahren habe ich mich nüchtern ins Internet gesetzt und über meinen Alkoholismus und meinen Aufenthalt in einer Suchtklinik gesprochen, und darüber, was das Trinken mit mir gemacht hat. Auch eine Art Striptease.

Vorgestern habe ich einer Freundin von meinen Zweifeln erzählt. Ob es wirklich nötig ist, schon wieder meinen nackten Körper einzusetzen, und ob das nicht viel eher meine Bedürftigkeit entlarvt. Meine Bedürftigkeit, gesehen zu werden. „Es ist ein Buch über Scham“, hat sie gesagt, „also schreib über die Scham, die du dabei empfindest, deinen Körper auszustellen und einzusetzen.“ Dabei ist mir klargeworden, dass die Scham gar nicht meinem Körper anhaftet, sondern meiner Bedürftigkeit, meiner Sehnsucht danach, mich sichtbar zu machen, mich nackt zu machen, dass andere mich angucken. Wenn ich mich heute also noch einmal nackt ins Internet setze, dann hat das mehr mit Reklamation, Visibility und Entitlement zu tun. Ich nehme etwas in Anspruch.

Raum, Sichtbarkeit und Relevanz stehen den Dingen nicht automatisch zu. Weswegen sie im Umkehrschluss anderen auch nicht automatisch nicht zustehen. Weil es bei Kommodifizierung – der „zur-Ware-Werdung“ – ja nicht nur um Bilder geht, die sich monetarisieren lassen (Schönheit, Schönheitsprodukte, Schönheitsversprechen etc.), sondern mindestens genauso sehr um von der Kommodifizierung ausgeschlossene Bilder. Weil die „Ware“, zu der sie werden könnten, eine gefährliche ist. Eine, die den Status Quo in Frage stellt. Weil die Verbreitung dieser anderen Bilder Zweifel sät, was gültig sein soll und was nicht. Was als begehrenswert gelten darf und was nicht. Was ein Anrecht auf Zuwendung, Interesse, Verwirklichung hat und was nicht. Was relevant ist und was nicht.

(x) Dinge, die gepostet werden dürfen

– Auf Facebook gibt es eine Gruppe namens Barbie Kenposting. Dort werden den Barbie- und Ken-Filmfiguren rassistische, sexistische, menschenverachtende Statements in den Mund gelegt. (Beispiel gefällig? „Wait Ken, are you saying it didn´t happen?“ – „It´s mathematically impossible to cremate six million within that time frame, Barbie.“)

– Tote Kleinkinder, die an Küsten angeschwemmt werden.

– Mütter, die auf Plakatwänden ihr Neugeborenes als ihren Grund, für Deutschland zu kämpfen, präsentieren.

(x) Dinge, die nicht gepostet werden dürfen

– Blut, das aus Körperöffnungen kommt, wenn es der sexuellen und gesundheitlichen Aufklärung dient.

– Brüste und Vulven, wenn sie nackt sind und nicht zu Barbie oder einer anderen Puppe gehören

– Haare im Intimbereich, wenn sie erkennbar nicht nur Haare, sondern Schamhaare sind.

Laura Mulvey, die eingangs zitierte Filmtheoretikerin, führt 1975 in „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ am Beispiel von Hollywoodfilmen aus, wie das funktioniert, was wir heute als „male gaze“ bezeichnen. Sie beschreibt tief im Unbewussten verankerte Muster, die für die Faszination verantwortlich sind, die diese Filme ausüben. Muster, die erfordern, dass die einen, die Frauen (1975 macht Mulvey das noch am Geschlecht fest), in einer symbolischen Ordnung gefangen sind, während die anderen, die Männer, sich und ihre Phantasien durch die Herrschaft der Sprache ausdrücken können. Film um Film um Film weist Mulvey nach, welche Regie-, Kamera- und Belichtungsentscheidungen dazu führen, dass die weibliche Figur als passiv, ausgeliefert und Objekt erfahren wird, die männliche Figur hingegen gar nicht anders als aktiv, entscheidend, Subjekt gelesen werden kann. Wie also produktionstechnische Entscheidungen für eine Ausrichtung des Zuschauerblicks sorgen, die den Betrachtenden gar keine andere Wahl lässt, als einer bestimmten Darstellung zu folgen. Wenn Mulvey die „Lust am Schauen“ („pleasure in looking“) und die des „Angesehen-Werdens“ („to-be-looked-at“) beschreibt, muss man ihr dabei gar nicht bis zu Freud folgen, der Menschen einen angeborenen voyeuristischen Instinkt attestiert, aus dem in letzter Konsequenz Penisneid und Kastrationsangst resultieren. Für meine Frage genügen Mulveys Ausführungen zur Dressur des menschlichen Blicks durch die Bildproduktion. Wie es also kommt, dass eine Entscheidung der Regie (Ausrichtung Nr. 1) den Kamerablick so auf eine Figur richtet (Ausrichtung Nr. 2), dass der Publikumsblick nicht anders kann, als dem zu folgen (Ausrichtung Nr. 3). Victim of Delivery: wir können schon rein technisch nur den ausgelieferten Bildausschnitt rezipieren. Wir sind dem Blick der Produzierenden ausgeliefert.

„Image constitutes the matrix for the imaginary“, im Abgebildeten liegt die Matrix des Vorstellbaren, so Laura Mulvey, oder, freier, aber dem Original angemessener: Das, was abgebildet und uns dementsprechend vorgestellt wird, bildet die Blaupause für das, was wir uns vorzustellen in der Lage sind. Was für eine Tragik. Was für ein Potenzial. Wenn ich heute also Phänomene und Sachverhalte verhandeln kann, für die es in meiner Kindheit und Jugend keine Begriffe gab, dann liegt das vor allem daran, dass auch die Vorstellung davon zumindest in meiner Welt nicht vorhanden war. Die Welt, in der ich großgeworden bin, war hetero- und cisnormativ, und so erkläre ich mir auch die verquere Körperwahrnehmung, die ich viele Jahre mit mir herumgeschleppt habe.

Ich bin relativ groß, schlank, und ich habe Brüste, um die ich oft beneidet, für die ich oft bewundert wurde. Nur dass ich diese Brüste eher nicht besonders mag. Ich empfinde meinen Körper als unlauteren Wettbewerbsvorteil. Als gäbe es einen abgemessenen Anteil an Aufmerksamkeit, der sich in der Öffentlichkeit auf Menschen verteilt, und große Brüste gehörten zu den Details, mittels derer sich eine Zusatzprozente des Aufmerksamkeitskuchens aneignet. Auf Kosten von anderen. Bestechende Logik. Zumindest, wenn man meiner Großmutter und meiner Mutter darin folgt, dass Brüste irgendwie ein unzulässiger Joker sind, der alles aussticht, und zwar ausnahmslos.

Später versuche ich, meinen Körper von der ihm zugewiesenen Bedeutung zu befreien und herauszufinden, welche Bedeutung ich im selbst zuweisen kann: Ich masturbiere vor dem aufgeklappten Laptop zur CrashPad-Series. Ich lasse mir bei OMGYes von anderen Frauen vorführen, wie sie masturbieren, wie sie zum Orgasmus kommen. Ich installiere eine Fruchtbarkeits-App und lerne die Konsistenz meines Zervixschleims zu lesen. Ich kauere bei einem Workshop zur weiblichen Ejakulation neben 12 anderen Teilnehmer:innen über meinem Frotteehandtuch und stimuliere mit dem Zeigefinger mein Prostatagewebe. Ich suche nach Begriffen für weibliche Erregung und finde als Entsprechung für das, was im Englischen und bei Männern Boner heißt, vier mäßig überzeugende englische Slangbegriffe: Lady Boner, Swollen Lips, War Flute, Throbbing Clit. Meine kläglichen Versuche, sie ins Deutsche zu übertragen, machen die Sache nicht besser: Damenständer, Schwelllappen, Kriegstrommel und Clit-Alarm.

“Unter Geschlechtsverkehr wird traditionell der Coitus, also das Einführen des erigierten Penis in die Scheide der Frauen verstanden. Heute geht man von einer weiteren Bedeutung des Begriffs Geschlechtsverkehr aus und meint damit jede Beziehung zwischen Menschen, bei der eine sexuelle Reaktion stattfindet. Das bedeutet, dass auch Mund-, Anal- und Handverkehr dazugezählt werden und dass es einen Geschlechtsverkehr nicht nur zwischen Mann und Frau gibt.” (Neues Lexikon der Sexualkunde, Ullstein 1993)

Als das „Neue Lexikon der Sexualkunde“ bei Ullstein erscheint, bin ich 21 Jahre alt. Mein erster Sex liegt vier Jahre zurück. Gerissen ist dabei nichts, auch wenn der Eintrag über Defloration bzw. Entjungferung behauptet, dass “das Einführen des Penis beim ersten Geschlechtsverkehr ein Einreißen des Jungfernhäutchens (Hymen) an mehreren Stellen bewirkt”. Dass das Jungfernhäutchen nicht einreißen kann, weil es gar nicht existiert, wissen wir damals noch nicht. Seitdem habe ich mit zwei weiteren Jungen das getan, was das Lexikon als Coitus bezeichnet, wenn auch ohne den ebenfalls darunterfallenden Mund-, Anal- oder Handverkehr. Die Möglichkeit, andere Öffnungen auszuprobieren oder gegenseitig Hand anzulegen, war nichts, an das ich überhaupt auch nur gedacht hätte. Wir waren ja schon erleichtert, wenn es uns überhaupt gelungen ist, irgendwann nackt zu sein, die Sache mit der Verhütung irgendwie angesprochen und geklärt zu haben und sich auf Basis dieser beiden Tatsachen im Einverständnis darüber zu wähnen, dass jetzt der Teil des Prozesses dran war, Körperteile ineinander zu verstauen. Alles, was darüber hinausging – über Lust oder Erregung zu sprechen oder gar darüber, wie sie herzustellen, wie einander anzufassen wäre – lag weit außerhalb des Vorstellbaren. Überhaupt, dass der eigene Körper keine Verfügungsmasse ist. Also keine für andere.

Don´t touch, don´t comment without being invited. Und nein, davon sind nicht-sexualisierte Körperteile nicht ausgenommen. Es gibt überhaupt keine Körperteile, die public property sind. Haut nicht, Hände nicht, Oberschenkel nicht. Nicht einmal Haare. Und zwar nicht nur meine Haare, sondern alle Haare, die sich auf Köpfen von Menschen finden, unabhängig davon, wie süß, wie niedlich, wie glatt oder kraus, wie einladend, wie ungewöhnlich oder sonstwas sie daherkommen. Und auf Äußerlichkeiten bezogene Kommentare werden auch nicht dadurch akzeptabler, dass sie als Kompliment gemeint sind („Die drei Kinder sieht man dir aber gar nicht an.“ „Du hast dich aber gut gehalten“). Ich mag Wertschätzung, wenn sie sich auf etwas bezieht, das ich geschaffen habe, für das ich Urheberrecht reklamieren, auf das ich stolz sein kann. Aber für meine Haare, meine Brüste, den Erhaltungszustand meines Körpers und die Großzügigkeit, mit der die wechseljahresbedingte Gewichtszunahme bislang ausgeblieben ist, ließen sich höchstens Gott, wenn ich an ihn glaubte, mein Fitnessstudio, meine Yoga-App oder die Wechseljahreshormone komplimentieren. Wozu also setzen wir einander permanent Komplimenten aus, die sich auf oft unbeeinflusste oder unbeeinflussbare Äußerlichkeiten beziehen? Die Mutmaßung drängt sich auf, dass sich als Kompliment ausgibt, was eigentlich ein Instrument ist.

1973. Elisabeth und Wolfram finden Blau schöner als Rosa. Also werde ich im blauen Strampler durchs Dorf gefahren. Wer sich über den Kinderwagen beugt, dem entfährt, “ä Buu, wie schee”, ein Junge, wie schön. Nein, ein Mädchen, stellt meine Mutter klar. “Aa net schlimm.” Als ich neun oder zehn bin, höre ich zum ersten Mal den Vergleich von Brüsten mit einem Bügelbrett. Er kommt von meiner Mutter, und es sind ihre eigenen Brüste, über die sie spricht, und offensichtlich ist das nichts, was man sein will: Flach wie´n Bügelbrett. Die anderen zweidimensionalen Brüste, die ich sehe, sind auf der Titelseite einer Illustrierten. Genauer gesagt: Brüste, die ich nicht sehe. Weil meine Großmutter sie mit Leukoplaststreifen abgeklebt hat. Brüste, wenn sie flach oder abgebildet sind, sind nicht erstrebenswert.

1975. Nachdem sie ausgeführt hat, wie die Filmgeschichte ihren Profit daraus schlägt, bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen und damit eine bestimmte Selbstwahrnehmung zu konditionieren, fordert Laura Mulvey eine neue Sprache des Begehrens, a new language of desire. Fast forward. 2023 sehe ich Mulveys Forderung in Teilen eingelöst. Wenn es nämlich darum geht, nicht-mehr-Gültiges zu identifizieren (Zweigeschlechtlichkeit, Cis- und Heteronormativität, Männlichkeit, Triebmodell, geschlechtsspezifische Rollenbilder etc.) und eine andere Praxis, eine andere Sprache und eine andere Bewertung einzufordern. Wenn z.B. Laurie Pennie die immer noch überfällige „Sexuelle Revolution“ (Edition Nautilus 2022) einfordert, Katherine Angel in „Tomorrow sex will be good again“ (Verso Books 2021) über die Bedingungen für sexuelle Begegnungen im Zeitalter von Consent nachdenkt, Mithu Sanyal die Bedeutung und Konsequenzen von „Vergewaltigung“ (Edition Nautilus 2020) hinterfragt, Evan Tepest in „Power Bottom“ (MAERZ Verlag 2023) fälschlich an Dominanz und Unterwerfung gekoppelte Geschlechterkonventionen umkrempelt, Carmilla de Winter in „Asexualität, Aromantik und die Sache mit dem Glück“ (Maro Verlag 2023) deutlich macht, dass nicht jeder Mensch im gleichem Maße durch Sexualität bestimmt und gesteuert wird, und Vanessa Veselka in „The collapsible woman“ den Mythos von der zusammengeklappten Frau einkassiert, die zu verletzt und zu verletzlich ist, um sich einer Auseinandersetzung, ihren Erfahrungen oder überhaupt irgendeiner Belastung zu stellen.

Die neue Sprache des Begehrens wird also mit Worten längst gestaltet. Aber wie verhält es sich mit den Bildern? Wenn sich etwas ins Bild drängt und Sichtbarkeit, einfordert, das bislang mit anderen Etiketten belegt war, und eine neue Lesart einfordert? Weil Brüste eben nicht nur Erotisierungspotenzial haben, sondern auch Schwerkraft, weil Schamhaare eben nicht nur für Scham stehen, und Geschlechtsorgane nicht nur der Aufnahme penetrierender Objekte und der Freisetzung von Urin, Menstruationsblut und Kindern dienen, sondern auch aufklärerische, rebellische und renitente Geschichten zu erzählen wissen: vom Unterschied zwischen Vulva und Vagina, davon, dass nicht jede Schwangerschaft ausgetragen werden muss, dass wir über Sexualhygiene sprechen sollten, und nicht zuletzt davon, dass der unberechtigte Zugriff auf Körper zwar technisch möglich ist, der Person, die in diesem Körper steckt, dadurch aber weder ihre Würde noch ihre Ehre noch sonst irgendetwas genommen werden kann.

Nachtrag: Ein Pin-up ist, laut Wikipedia, ein Ganzfigurenbild mit erzählerischem Element. Und damit wird dieser Striptease doch noch seiner Definition gerecht.

(Kann es ein Feminist Pin-up geben?, kaput mag, Okt. 2023)