Erdnüsschen und Kameltreiber

Als ich ein Kind war, gab es bei uns oft Erdnüsschen. Wenn man eine Erdnuss an der Kante aufbricht, kommt an der Innenseite ein kleiner gebogener Keim zum Vorschein. Mein Vater wusste von dem kleinen Keim zu berichten, dass wiederum sein Vater einen Namen dafür gehabt habe. Judennasen. Ich erinnere mich nicht, ob mein Vater dabei verschämt gelacht hat. 

Als ich ein Kind war, war Deutschland ein Land, in dem Deutsche lebten, und ich nicht wusste, was ich von der Erdnussanekdote halten sollte. Als ich ein Kind war, war Deutschland ein Land, in dem man sich abkaufte, kein Antisemit sein zu können, wenn man „das mit den Juden“ furchtbar fand, den Nationalsozialismus verurteilte und dabei selbst für die Autobahnen keine Ausnahme machte. Als ich kein Kind mehr war, fand ich es normal, wenn von „wir Deutschen und die Juden“ geredet wurde. Die Juden, über die da geredet wurde, waren ja die Juden aus den Geschichtsbüchern. Also die, die es nicht mehr gab. Als ich kein Kind mehr war, war ich gegen Antisemitismus immunisiert. Schließlich hatte ich „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ gelesen. Juden gab es also nur in tot und gegen den Antisemitismus gab es eine Gebrauchsanweisung, an die man sich halten konnte: keine Hakenkreuze sprühen, keine judenfeindlichen Witze, am besten den Begriff „Juden“ gar nicht erst verwenden. 30 Jahre später lese ich Max Czolleks Polemik gegen das deutsche „Versöhnungstheater“: die Tendenz nichtjüdischer Deutscher, sich zwar am entgegengesetzten Ende der Skala derjenigen zu positionieren, die ein „Ende des Schuldkult“ fordern, aber dafür auch die Erwartung vor sich herzutragen, man möge ihnen bitte dafür auf die Schulter klopfen, wie gut sie sich mit ihrer Verantwortung auseinandersetzen. Und dass das doch bitte die jüdische Welt auch zur Kenntnis nehmen soll. Muss. Intention und Realität, nicht immer deckungsgleich.

Und dann kommt der 7. Oktober und ihm folgt die kaum aufzulösende Spannung zwischen dem (vermeintlich erforderlichen) Pledge of Allegiance zu einem Staat und der Berechtigung, über Völkerrecht, Kriegsrecht, Genfer Konventionen und Menschenrecht sprechen zu dürfen.  Noch einmal gucke ich in meine Kindheit. In der es gar keine (sichtbaren) Jüdinnen und Juden gab. Aber Araber. Also einen. Und den fanden wir toll. Was ihm den Spitznamen „Araberschätzelchen“ eintrug. Eigentlich hieß er Karim. Karim kam nicht aus Palästina, sondern aus Ägypten, und damit war er Araber, auch wenn ich keinen Staat namens Arabien kannte. Und Araberschätzelchen war doch ein liebevoller Kosename. Unhinterfragte Logik meiner Jugend. Die Begriffe Antiarabismus oder Islamophobie kannte ich damals noch nicht, außerdem war Karim kein Muslim. Wenn ich heute über die Gönnerhaftigkeit nachdenke, mit der wir persischen, arabischen oder türkischen Mitschülern (das war in etwa das Ausmaß unseres Herkunftsfassungsvermögens, von kurdischer, paschtunischer, jesidischer oder kurdischer Herkunft wussten wir nichts und danach fragten wir nicht) Spitznamen zugeteilt haben, wird mir ein bisschen schlecht. Was wir uns als liebevolle, individuelle Zuweisung und als Gegenteil von Rassismus verkauft haben, strotzt von Arroganz und Herrenmenschentum. Schätzelchen von Führers Gnaden. Die Vergabe der Auszeichnung, des Gütesiegels obliegt der weißdeutschen Mehrheitsgesellschaft, und ob sich Karim, Mehmet oder Muna seiner würdig erweisen, ist abhängig von Likeability, Attraktivität und Wohlverhalten. Ähnliche Kriterienkataloge entwickelte einst das Rasse- und Siedlungshauptamt, um das Germanisierungspotenzial von „Fremdvölkischen“ festzulegen. Und damit niemand auf die Idee kommt, einzelne Vertreter dieser weniger wertvollen Kategorien als Individuum wahrzunehmen, erfolgte das Sprechen über sie im repräsentativen Singular: Der Jude. Der Fremdvölkische. Der Araber.

Auftritt Jan Fleischhauer, deutscher Journalist. Jan Fleischhauer weiß viel über Palästina. Und den Palästinenser. „Was haben wir in Palästina verloren?“, fragt Herr Fleischhauer, um auszuführen, dass wir (diesmal im zwangskollektivierenden Plural) dort nichts verloren haben: „Wir haben mit dem Westjordanland und Gaza keine gemeinsame Grenze oder Geschichte. Wir sprechen nicht die gleiche Sprache und teilen nicht dieselbe Kultur. Tatsächlich stehen uns die Palästinenser so nah wie die Aborigines in Australien.“ Auch wenn sein Text offiziell den Missbrauch humanitärer Hilfe bzw. von U.N.-Unterstützung in terroristisch unterwanderten Gebieten zum Thema hat, transportiert er doch nebenbei eine ziemlich widerwärtige Botschaft: wenn er nämlich die Palästinenser mit australischen Aborigines vergleicht, die er als „arme Menschen im Busch“ paraphrasiert, denen kein Spanier, Luxemburger oder Pole je unter die Arme zu greifen auf die Idee käme. Nicht völkerrechtliche, humanitäre Aspekte oder wirtschaftliche Interessen geben nach dieser Lesart den Ausschlag für internationale Hilfe, sondern Zivilisationsstufen as defined by J.F. Und dann fährt er weiteres Expertenwissen auf. Über den Palästinenser. Also den Palästinenser an sich, nicht über Individuen oder Instanzen, die unterscheidbare Funktionen innehaben oder politische Positionen vertreten. Um schließlich zum finalen Schlag auszuholen: Immerhin, so attestiert er dem Palästinenser, lege er freimütig offen, was er vorhabe. Genau wie sein großes historisches Vorbild. J.F. lässt es sich nicht nehmen, dieses Vorbild auch zu benennen. Das hat nämlich, anders als „der Palästinenser“ einen Namen. Adolf mit Vornamen.  

Ich weiß nicht so viel über Palästina wie Jan Fleischhauer. Auch wenn ich mit ein bisschen Fact-Dropping den Eindruck erwecken und Ghayat Almadhoun zitieren könnte, für die Credibility. – Diesen Eindruck will ich aber gar nicht erzeugen. Ich besitze null Credibility, wenn es um den Nahostkonflikt geht. Ich habe nicht einmal einen felsenfesten, unverrückbaren Standpunkt, geschweige denn, dass ich jemals auf die Idee käme, Staatsgrenzen von der Maas bis an die Memel, von der Save bis an die Donau oder von der Luppe bis zum Neckar zu fordern. Staatsgrenzen sind historisch und politisch ausgehandelt, nicht von Gott, Flüssen oder Vegetation („im Busch“) festgelegt. Es braucht auch gar keine geopolitische oder historische Expertise, um eine Position zu beziehen, die sich den J.F.s dieser Welt entgegenstellt. Wenn ich mir mein eigenes Schweigen als Zeichen von Respekt verkaufe vor denen, die mehr dazu zu sagen haben, ist das nichts als eine Schutzbehauptung. Um das Positionieren und Reagieren und Erklären an andere, vermeintlich besser Qualifizierte zu delegieren, an Meron Mendel, Saba-Nur Cheema, Mely Kiyak, Behzad Karim Khani, Dinçer Güçyeter, Ozan Zakariya Keskinkılıç zu delegieren, to name just a few. Weil die ja von da kommen. Weil die ja betroffen sind. Dabei weist Ronen Steinke explizit darauf hin, was für eine Last diese Rollenfestlegung bedeutet, sich permanent aus einer bestimmten Position heraus zu bestimmten Konflikten äußern zu müssen: als deutscher Jude, als Nazi-Enkelin, als Palästinenser. Am Ende ist es ein Post von Tomer Dotan-Dreyfus, der mir deutlich macht, dass sich meine vermeintlich respektvolle Zurückhaltung auch als Feigheit lesen lässt: „So viele schweigen jetzt, überlassen die dreckige Arbeit denn anderen. Wir, die anderen, die auch nicht *von hier* sind, wir sollen darüber reden. Wir sollen das Thema normalisieren. Damit später, (…) wenn es einen nicht mehr die Karriere kostet sich für Menschenrechte einzusetzen, wenn andere den Preis schon bezahlt haben, die deutschen Kolleg*innen den Kopf schütteln und in jedem Interview sagen: „schlimm, schlimm war das.“

Ich weiß nichts über den Palästinenser. Ich weiß auch nichts über den Araber. Oder den Juden. Was ich aber wissen und aussprechen und verteidigen kann: dass nicht die Zugehörigkeit zu Staaten, deren Pässe wir besitzen (oder eben nicht), verpflichtend diktiert, welche Position wir zu vertreten haben. Und im Grunde ist es auch gar nicht so schwer. Es gibt Menschen, die in ihrer politischen Argumentation zu unterscheiden wissen zwischen Eigenschaften, die Menschen aufgrund ihrer Staatszugehörigkeit, Nationalität und selbstgewählten Zugehörigkeiten haben. Und Eigenschaften, die sie unabhängig von diesen Zugehörigkeiten haben. Und aus diesen Gründen eine bestimmte Position vertreten. Einige davon sind jüdisch und leben in Deutschland. Einige davon sind jüdisch und leben in Israel. Einige davon sind in Deutschland lebende Palästinenser*innen. Einige davon sind in Israel lebende Araber. Einige davon haben eine deutsche Staatsbürgerschaft und einen persischen oder ägyptischen Vater, eine libanesische Mutter. Einige haben eine deutsche Staatsbürgerschaft und keinen Migrationshintergrund. Und dann gibt es Menschen, die in ihrer politischen Argumentation nach Religionszugehörigkeit, Nationalität und Territorialität urteilen. Die auf Basis dieser Zugehörigkeiten Eigenschaften zuordnen. Dem Palästinenser. Dem Juden. Dem Deutschen. Früher nannte man die Rassisten. (Wenn ich darüber nachdenke: ich sehe keinen Grund, das heute nicht mehr zu tun.)

was zu lesen hilft

Meron Mendel: Über Israel reden

Ozan Zakariya Keskinkilic: Muslimaniac. Die Karriere eines Feindbildes

David Baddiel: Jews don´t count

Max Czollek: Desintegriert euch

Mely Kiyak: Werden sie uns mit FlixBus deportieren?